Block IV - Pressearbeit 1986

Begonnen von DG0MG, 26. April 2020, 01:23

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DL3HRT

Heute erschienen zwei umfangreiche Artikel zur Havarie. Wenn man gewohnt ist zwischen den Zeilen zu lesen, so wird eines deutlich: Es ist etwas "Größeres", auch wenn es (immer noch) nur zwei Tode gegeben hat.

"204 Menschen mit Anzeichen von Strahlenkrankheiten unterschiedlichen Grades" - was heißt das? Leichte, mittelschwere und schwere Strahlenkrankheit? Welche Dosis braucht es eigentlich, um die unterschiedlichen Grade auszulösen? Und warum so viele Menschen? Da muss definitiv mehr passiert sein als nur das Entweichen einer gewissen Menge an Radioaktivität.

Aber wir brauchen uns keine Sorgen zu machen! Der Leiter der Strahlenschutzkommission beim Innenministerium der BRD spricht von "Hysterie", für die es keine Grundlage gibt. Wenn solche Äußerungen sogar "aus dem Westen" kommen, dann ist wirklich alles in Ordnung.

Und dann sind da noch Hunderte, wenn nicht gar Tausende Vorfälle in jedem Jahr in Kernkraftwerken der USA. Wie gut, dass wir in Europa leben...

NoLi

BRD am 07.05.1986:

>> 7. Mai 1986: Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann zwölf Tage nach dem GAU von Tschernobyl.
Wenig später rät die Bundesregierung dann doch davon ab, frisches Obst, Gemüse und Milchprodukte zu verzehren. Kinder sollen nicht mehr auf Spielplätze, Kühe nicht auf die Weiden. Und die Bundesbürger lernen neue Begriffe: Cäsium und Strontium sind ihnen bald ebenso geläufig wie die Definition von Bequerel oder Halbwertszeit. <<


>> Wie das Nürnberger-Land das Tschernobyl-Unglück erlebte.
Inzwischen erreichten die Behörden so viele Anfragen verängstigter Bürger, dass sich Landrat Klaus Hartmann zu einer Klarstellung genötigt sah: ,,Die Bevölkerung kann davon ausgehen, dass seitens des Landratsamts mit keiner Information in Zusammenhang mit dem Reaktorunglück in Rußland (...) hinter dem Berg gehalten wird." Doch viele Informationen hatte Hartmann offensichtlich selbst nicht.
,,Im Kreisausschuss kritisierte Landrat Hartmann schließlich noch die Informationspolitik der übergeordneten Behörden. Es sei deutlich geworden, dass man ganz offensichtlich nicht auf eine derartige Katastrophe vorbereitet gewesen sei. (...) Erschreckt, so Hartmann wörtlich, habe ihn auch eine Anfrage in den Kreiskrankenhäusern, was diese mit strahlengeschädigten Patienten tun könnten, und die entsprechende Antwort: ,Nichts, wir sind dafür nicht eingerichtet.'" (PZ vom 7. Mai 1986)
Konkrete Messwerte aus dem Nürnberger Land fehlten bis dahin. Zwar hatte die Landespolizei einen Strahlenmesswagen in der Laufer Inspektion stationiert, doch die Pegnitz-Zeitung berichtete: ,,Messwagen in der Garage". Das Umweltministerium, das den Einsatz koordinieren solle, habe die Genehmigung noch nicht erteilt. <<


>> 7.5.1986 – Verkaufsverbot für Kräuter und Blattgemüse
Gesundheitssenator Fink hat gestern ein generelles vorläufiges Verkaufsverbot für Freiland-Blattgemüse und Gewürzkräuter aus Berliner Gärtnereien erlassen. Er begründete das Verbot mit "sehr bedenklichen" Messergebnissen hinsichtlich der Strahlenbelastung mit Jod 131. Am Montag wurden in Rudow beispielsweise Estragon mit 2.240 Becquerel pro Kilo, Spinat mit 1.208, Petersilie mit 2.056 und Liebstöckel mit 2.940 Becquerel pro Kilo gemessen. (aus: Der Tagesspiegel, BRD) <<


>>Mitteilung des 1.Programmes des Österreichischen Rundfunks:
7. 5. 1986, Ö1-Mittagsjournal (Nachrichtenüberblick am Anfang, dann weiter ab 11:56): TASS bezeichnet die Lage in und um Tschernobyl als "weiterhin beunruhigend". Die Prawda moniert anlässlich der Berichterstattung in Europa eine "westliche Verleumdungskampagne". In Österreich ist der Verkauf von Freilandgemüse weiterhin verboten. FPÖ-Wehrsprecher Norbert Gugerbauer empfiehlt, "in nächster Zeit keine Übungen von Bundesheersoldaten abzuhalten". Im Rahmen des Bundespräsidentschaftswahlkampfs wird Tschernobyl immer mehr zur Vorlage für die Zwentendorf-Debatte. Die Kandidaten Kurt Steyrer, Kurt Waldheim sowie der Vizekanzler Norberg Steger sehen die Debatte zu Ungunsten von Zwentendorf entschieden. <<


Hier ein GRS-Bericht mit detaillierteren Messwerten (in Teil 2):  https://www.grs.de/sites/default/files/pdf/GRS-S-40_0.pdf

Gruß
Norbert

DL3HRT

Die Nachrichtenlage hat sich heute nicht verändert.

Schlagzeile: "WHO-Direktor: Kein Zwang zu Handlungsempfehlungen":
Irgendwie habe ich ein Déjà vu. Mir ist so, als ob ich das vor kurzem in einem anderen Zusammenhang schon einmal gehört habe. ;)



NoLi

BRD am 08. Mai 1986:

>>>  Wie das Nürnberger-Land das Tschernobyl-Unglück erlebte.
Nur im Raum Feucht hatten sich die amerikanischen Streitkräfte ,,in die Messungen eingeschaltet, Ergebnisse liegen hier allerdings auch noch nicht vor". Vorsorglich blieben die Freibäder in Lauf, Röthenbach und Schnaittach geschlossen.
,,Die Stadt Lauf wird ihr eigenes Strahlenmessgerät anschaffen, um künftig auch auf diesem Sektor selbständig zu sein. Weiters sollen die Leiterinnen der örtlichen Kindergärten veranlasst werden, die Kinder vorläufig nicht auf einem Rasen und in Sandkästen spielen zu lassen." (PZ vom 8./9. Mai 1986)
Erst Kreisbrandinspektor Bernd Pawelke aus Hersbruck, der eine Strahlenschutzausbildung absolviert hatte, sorgte für Klarheit. An rund 30 Stellen im Landkreis maß er – ehrenamtlich – die Radioaktivität. Zehn Tage nach der Explosion in Tschernobyl war diese deutlich erhöht, wenn auch ,,noch nicht besorgniserregend hoch", wie der frühere Feuerwehrfunktionär heute rückblickend sagt. Im Sandspielkasten des Laufer Freibads zeigte Pawelkes Messgerät bis zu 200 Becquerel an, normal wären hier 20 gewesen.
,,Die gemessenen Werte bewegen sich damit zwischen der Verdoppelung des Strahlungs-Normalwertes und einer Verfünfzehnfachung." (PZ vom 8./9. Mai 1986)
Der Sand in den Spielkästen wurde zwar in der Regel nicht ausgetauscht, doch empfahlen Experten, dass ,,Kleinkinder intensiven Körperkontakt mit dem Boden meiden sollten". Vor dem Schulsport musste der Rasen frisch gemäht werden.
Die Lage entspannte sich dennoch schnell. ,,Nach wie vor" gebe es zwar keine offiziellen Werte, hieß es zwei Wochen nach dem Tag X, doch dank dem Kreisbrandinspektor stehe nun fest, dass die Belastung inzwischen wieder abnehme. Im Röthenbacher Freibad etwa waren zunächst um den Faktor 15 erhöhte Strahlendosen gemessen worden, doch nur wenige Tage später war der Wert an dieser Stelle nur noch dreimal höher als normal – ,,Röthenbach wird Freibad eröffnen", stand deshalb am 15. Mai 1986 im Lokalteil. Eine Gefährdung der Badegäste könne ausgeschlossen werden. <<<

>>> Strahlentelex:
Nach den ersten Regenfällen in Berlin am 8. Mai 1986 sprachen die Senatsbehörden in Berlin von einem Anstieg der Bodenkontamination auf bis zu 4.000 Becquerel pro Quadratmeter oder ,,um 30 Prozent". Die Meßwerte unabhängiger Institute lagen allerdings viel höher. Die Biochemiker der Freien Universität Berlin ermittelten keinen Wert unter 50.000 Becquerel pro Quadratmeter. <<<

>>> FAZ:
8. Mai: Die Bonner Strahlenschutzkommission gibt ,,Teilentwarnung" für Cäsiumwerte und betont, daß Spinat und Salat nicht auf Sondermülldeponien gebracht werden müssen. <<<

>>> NW Neue Westfälische:
1986 war Bemmann noch Beigeordneter, also zweiter Mann im Löhner Rathaus...Die Sportplätze ließ er zwar offen, doch noch am 8. Mai 1986 ging sein dringender Rat an alle Vereine, sie vorsichtshalber nicht zu nutzen. Die Spielplatzsperre führte in Löhne auch zu Auswüchsen. Erboste Bürger kippten Sand aus den Spielkästen vor dem Rathaus und sogar vor Bemmanns Privathaus ab. "Eine Überreaktion. Wir haben das damals nicht weiter verfolgt. Hitzköpfe gibt's immer", sagt er heute dazu.
Rolf Bemmann erinnert sich auch noch genau, dass in den Supermärkten Gemüsestände mit dem Hinweis "Garantiert aus Gewächshausanbau" ausverkauft waren, während Freilandgemüse vergammelte.
"Kaum jemand traute sich 1986, Gemüse aus dem eigenen Garten zu verzehren. Das hatte durchaus etwas von Panik und Hysterie", sagt Bemmann heute.
Woran er sich außerdem erinnert, sind diverse Krisengespräche der führenden Verwaltungsbeamten auf Kreis- und Regierungsbezirksebene. "Dabei wurden zwei Dinge deutlich", sagt Rolf Bemmann: "Erstens: Im Grunde wusste niemand etwas Genaues. Selbst im Innenministerium Düsseldorf war eigentlich nur das bekannt, was die Medien berichteten." <<<


Gruß
Norbert


DG0MG

Am 29. April (also 3 Tage nach dem Unfall) fragte der russische Geheimdienst KGB beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR nach Tips an, wie man in den KKW der DDR einen auftretenden Reaktorbrand löschen und die Rettungskräfte vor Strahlenbelastung schützen würde.

Heute dann - mehr als eine Woche später - sendet die DDR die Antwort an die russischen Freunde, die vermutlich nicht besonders hilfreich gewesen ist: Eine Sammlung wissenschaftlicher Artikel und eine einschlägige Publikation aus der Bundesrepublik, ein Bulletin und allgemeine Informationen der IAEA, die Promotion eines Mitarbeiters des SAAS sowie "Lösungsvorschläge und Ideen" zweier Experten.

"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

DL3HRT

Dafür wurde heute ein etwas romantisch verklärter Reisebericht aus der "Prawda" abgedruckt. Die "Prawda" (zu Deutsch = "Wahrheit"), war eine Tageszeitung in Russland und das Zentralorgan der kommunistschen Partei. Was dort abgedruckt ist, musste einfach stimmen! Wenn man den Artikel etwas genauer liest, so wird der personelle Aufwand der "Aufräumungsarbeiten" deutlich.

Die Anzahl der Todesfälle hat sich um 50% von 2 auf 3 erhöht. Man schreibt von 6 Patienten in besonders schwerwiegendem Zustand, sowie durchgeführten Knochenmarktransplantationen.


NoLi

In der BRD am 09. Mai 1986:

>>> Freitag, 9. Mai: Oberbürgermeister Manfred Mutz (Gießen) teilt mit, dass zur Wochenmitte deutlich erhöhte Werte an Caesium 137 gemessen wurden. Eine Umfrage auf dem Gießener Wochenmarkt kommt zu dem Fazit: "Salat und Spinat derzeit nicht gefragt." Ein Marktbeschicker: "Die Verbraucher sind total verunsichert." <<<


>>> https://www.welt.de/wissenschaft/gallery13173595/Wie-Tschernobyl-Deutschland-im-Jahr-1986-veraenderte.html#cs-deutsch4-DW-Wissenschaft-Muenchen-jpg.jpg <<<


>>> ...der Heidelberger Grünen-Landtagsabgeordnete Andreas von Bernstorff...Bernstorff erinnert sich, dass sich viele Bürger bei den Grünen Rat holten: "Wir müssen Ersatzbehörde spielen", klagten sie in der RNZ vom 9. Mai, da sich sonst niemand zuständig fühlte. Vor allem wollten die Leute - es waren allein am Wochenende 3./4. Mai über 1000 Anrufer - wissen, was man noch essen könne. Die Grünen rieten von Frischmilch, Gemüse und Salat ab. Erst am 10. Mai, einem Samstag, stand in der RNZ, dass das Landratsamt "auch am Wochenende ein Sondertelefon" - man sagte damals noch nicht Hotline - eingerichtet habe, die Grünen waren in ihrem Büro von 10 bis 22 Uhr zu erreichen.
https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-Heidelberg-30-Jahre-Tschernobyl-Wie-Heidelberg-1986-auf-die-Reaktor-Katastrophe-reagierte-_arid,187276.html <<<


>>> Am Mittwoch den 7.5. wurde die Ansage folgendermaßen eingeleitet: "Guten Tag meine Damen und Herren ! Die Stadtverwaltung Göttingen teilt mit:Die Meßergebnisse des zentralen Isotopenlabors vom Mittwoch den 7. Mai  haben ergeben, dass die Radioaktivität inder Luft keine wesentlich erhöhten Werte gegenüber der normalerweise in der Natur vorhandenen gesamten Radioaktivität aufweist, die in der Luft bei 10 bis 20 Becquerel pro Kubikmeter liegt."

Hier handelt es sich wieder um eine Meisterleistung irreführender Formulierung. Man hat zwar erhöhte Meßwerte festgestellt, glaubt aber dies nicht offen sagen zu dürfen, ohne die Bevölkerung zu beunruhigen. Deshalb wählt man eine andere, verharmlosende Formulierung : "keine wesentlich erhöhten Werte". Erst ab dem 9.5.~als die Werte um ein vielfaches gefallen waren,hieß es dann:
"keine erhöhten Werte". Vorher gab es offensichtlich erhöhte Werte, irreführend präsentiert als "keine wesentlich erhöhten Werte".

Die Formulierung "keine erhöhten Werte" wurde vom 9.5. bis 20.5. verwendet, gleichzeitig hieß es aber in der Ansage täglich:"Die Meßergebnisse haben ergeben, dass die Radioaktivität in der Luft weiter abgenommen hat." Entweder es gibt keine erhöhten Werte oder es gibt erhöhte Werte, die täglich abnehmen aber eine Erhöhung die nicht da ist kann auch nicht täglich abnehmen. Hauptsache es hört sich gut an mag man da gedacht haben.
...in der Zeit vom 7.5. bis 20.5. lautete die Formulierung:
"Diese Werte lassen erkennen, dass die zusätzliche Strahlenbelastung,auch für Kleinkinder, tolerierbar ist."
Göttinger Stadtinfo GOEST
http://goest.de/tschernobyl.htm <<<

>>> https://www.swr.de/swraktuell/bildergalerie/-/id=13830988/did=13831192/gp1=17331214/gp2=17331470/nid=13830988/vv=gallery/kp14dx/index.html <<<


>>> 9.5.1986 WHO: SCHUTZMASSNAHMEN UNNÖTIG Die nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone in der Sowjetunion ergriffenen Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung sind nach Ansicht des Programmdirektors des europäischen WHO-Büros in Kopenhagen, Jean-Paul Jardel, überflüssig. Dabei zählte er Empfehlungen auf wie die, nicht ins Freie zu gehen, kein gewöhnliches Wasser zu benutzen und Jodpräparate zu nehmen. aus: taz  <<<


>>> Radioaktive Stoffe wurden durch den Brand bei diesem Unglück hoch in die Atmosphäre gerissen. Vom 05. bis 09. Mai des Jahres 1986 zog eine Fahne mit Luft aus dem Unfallgebiet über Berlin. Zu Ablagerungen kam es vor allem dort, wo Regen radioaktive Stoffe aus der Luft niederschlug (Washout). In Berlin regnete es in der ersten Maiwoche nicht. Die Belastung blieb sowohl absolut als auch im Vergleich zu anderen deutschen Regionen sehr gering.
Senatsverwaltung für
Umwelt, Verkehr und Klimaschutz <<<


>>> Über verseuchte Spielplätze schrieb NZ-Redakteur Frank Knittermeier am 9. Mai:

Die Strahlenbelastung in den Norderstedter Sandkisten ist offenbar größer als ursprünglich angenommen. Die Messungen des TÜV haben Werte ergeben, die erheblich höher liegen als in Hamburg: Die Sandproben von fünf Kinderspielplätzen ergaben eine Belastung von bis zu 5000 Becquerel pro Quadratmeter (in Hamburg: 330 Becquerel). Der TÜV empfahl der Stadt Norderstedt, den Sand der 75 Kinderspielplätze in der Stadt zu waschen.

Die Norderstedter Stadtverwaltung empfiehlt allen Eltern, die Kinder von den Sandkisten fernzuhalten - eine Aussage, die mit dem Kieler Sozialministerium abgestimmt ist. Eine zusätzliche Kontrolle ist in der kommenden Woche vorgesehen, dann wird die Stadt mit weiteren Empfehlungen an die Öffentlichkeit gehen.

Inzwischen hat die Kieler Landesregierung verfügt, dass unter freiem Himmel gezogenes Gemüse in Schleswig-Holstein ab sofort nicht mehr verkauft werden darf. Nach Angaben von Staatssekretär Sönke Traulsen vom Landwirtschaftsministerium betrifft das Verbot in erster Linie alle Blattgemüse, Salate, Erdbeeren aus Italien soweit sie für den unmittelbaren Verzehr vorgesehen sind, im Freien gezogen oder unter Glas mit Regenwässer bewässert wurden. Die Regelung gilt überwiegend für Importware aus südlichen EG-Ländern, Bayern und Holland, heimisches Freilandgemüse ist noch nicht auf dem Markt. Wer Freiland-Gemüse trotzdem auf den Markt bringen will, muss nachweisen, dass die Produkte kontrolliert und für unbedenklich befunden worden sind.

Heftige Kritik am Verhalten der Kreisbehörde hat inzwischen Kaltenkirchens Bürgermeister Günter Fehrs geäußert. Informationen seien erst spät und spärlich aus Bad Segeberg gekommen: Am Montag um 15.50 Uhr sei die erste Meldung vom Kreis gekommen, aber sie habe nichts enthalten, was man nicht ohnehin schon aus den Medien gewusst habe. "Die Information ist insgesamt unzureichend", betonte der Bürgermeister. Nach seinen Angaben wird der Städtebund im Sozialministerium Beschwerde einlegen. Kaltenkirchens Erster Stadtrat, Ingo Zobel, drückt seine Sorgen so aus: "Da zeigt sich die Ohmacht des Staates."  Wie groß das Durcheinander war, musste auch Walter Vagt, der Geschäftsführer der "Holsten-Milch" in Sievershütten, erfahren: Von der Landesregierung hatte die Meierei die Aufforderung erhalten, Milchproben direkt beim Kernkraftwerk Krümmel untersuchen zu lassen. Dort angekommen, ließ man ihn zunächst abblitzen, dann wurde er von Raum zu Raum geschickt, um schließlich die Mitteilung zu erhalten: "Er könne die Proben ja da lassen, aber heute würden sie sicher nicht mehr untersucht." Auch die Bürgerinformation bei der Landesregierung klappte nicht immer reibungslos: Unter einer Info-Telefonnummer meldete sich nur ein Makler.

Das Durcheinander war sogar so groß, dass die Stadtverwaltung später einräumen musste, die falschen Becquerel-Werte angegeben zu haben: Statt 5000 seien nur 317 Becquerel auf Spielplätzen gemessen worden - was unbedenklich war..
Hamburger Abendblatt  <<<


>>> Am 9. Mai meldet die Stimme Kritik am Krisenmanagement. Bauern und Verbraucher sind verunsichert, von "totaler Verwirrung" sprechen Behördenvertreter. Der im Land geltende Grenzwert von 500 Becquerel gerät in die Schusslinie, Experten halten ihn für zu hoch. Am 13. Mai beginnen die ersten Landwirte, ihre Salatköpfe unterzupflügen. Auch wenn die Messwerte unter der Richtgrenze liegen: Kaum jemand will die Freilandprodukte kaufen. Das Landwirtschaftsministerium warnt vor belastetem Wild. Grünes Licht für Gemüse und Salat gibt das Ministerium am 20. Mai. Am 11. Juli 1986 heben die Behörden die Einschränkungen auf.
STIMME  <<<


>>> https://www.stuttgarter-zeitung.de/gallery.30-jahre-nach-tschernobyl-1-mai-1986-die-radioaktive-wolke-erreicht-stuttgart.c672f579-08e5-4112-b7c8-747e1bffd969.html
https://www.stuttgarter-zeitung.de/gallery.aus-dem-archiv-der-stuttgarter-zeitung-radioaktive-wolke-ueber-stuttgart-nach-tschernobyl-katastrophe-1986.687d6716-598c-484e-8b5d-ea0fe9354a93.html
Stuttgarter Zeitung  <<<


Gruß
Norbert


DL3HRT

In der DDR versucht man das Problem auszusitzen. Es gibt keine neuen Informationen, nur allgemeine nichtssagende Aussagen über den Bericht der Regierungskommission in der Sowjetunion.

Die DDR-Bürger sind mittlerweile durch die Nachrichten im BRD-Fernsehen verunsichert. Die Veröffentlichung von Messwerten wäre hilfreich. Da das nicht geschieht muss man davon ausgehen, dass die Messwerte "nicht gut" sind. Offizielle Diskussionen zu Tschernobyl sind natürlich "unerwünscht".

NoLi

In der BRD am 10. Mai 1986:


>>> 10. Mai 1986: Entwarnung: Die Milch der Crailsheimer Molkerei und das Trinkwasser in der Stadt seien nur geringfügig belastet, berichtet das HT.
HOHENLOHER TAGBLATT <<<


>>>  Am 10. Mai gab es laut RNZ eine Empfehlung des Landeslandwirtschaftsministeriums, "Freiland-Gemüse nicht abzuernten, sondern unterzupflügen".
Rhein-Neckar-Zeitung <<<


>>> Samstag, 10. Mai

Das Thema ist wieder weg von der MZ-Titelseite. Die SPD schaltet eine ganzseitige Anzeige. Text: ,,Wer hätte Anfang des Jahres gedacht, dass er in diesem Mai lieber keine Milch trinken soll und seine Kinder nicht im Gras spielen lassen darf?" Eine zweite Anzeigenseite ist voll mit Namen von ,,besorgten Eltern aus Regensburg und Umgebung". Sie sind ,,zornig wegen der späten, unzureichenden und verwirrenden Informationen über die Folgen des Reaktorunglücks".

Lokales: Die Waldmünchner sind aus Berlin zurück. Sie haben einen Maibaum vor dem Schöneberger Rathaus aufgestellt und sich mit großer Parade auf dem Ku'damm gezeigt. Die SPD fordert im Kreistag einen Bericht über die Folgen von Tschernobyl für den Landkreis Cham. Und im Bayerwald-Echo schreibt Erwin Gnan als ,,Schorschi" in seiner Filser-Kolumne an die ,,Liebe Kathi": ,,Indem, daß es dem Russen sein erstes Atomkraftwerg zerrisen hat, strahlt der Mai bei uns wie nie zufor..."
MITTELBAYERISCHE ZEITUNG  <<<


>>> Samstag, 10. Mai: Die Gießener Sportvereine können ihre Hartplätze benutzen, Rasen- und Spielplätze bleiben geschlossen. RP und Staatliches Schulamt weisen an, dass Schüler während und nach Regenfällen im Gebäude bleiben müssen. Bürgermeister Schüler begibt sich auf einen "demonstrativen Markt-Einkauf". Er will etwas für "unseren Wochenmarkt tun, denn was dort angeboten wird, ist akzeptabel", sagt Schüler.
GIEßENER ALLGEMEINE  <<<


>>> 10. Mai 1986    Rund 1.400 Demonstranten folgen dem Aufruf des "Aktionsbündnisses Anti-Atomtod" zu einem Protestmarsch durch die Innenstadt (Mannheim) und einer Kundgebung auf dem Paradeplatz unter der Parole "Tschernobyl ist überall".
marchivum  <<<


Gruß
Norbert



NoLi

In der BRD: Zusammenschnitt von Nachrichtenbeiträgen in der Zeit vom 29. April 1986 bis 13. Mai 1986



Gruß
Norbert

DL3HRT

Heute wieder ein kurzes Statement, welches es allerdings in sich hat.

"Bis zum Sonntag habe theoretisch die Möglichkeit einer größeren Katastrophe bestanden..."

Das klingt völlig anders als bisher. Anscheinend war die Lage doch nicht unter Kontrolle. Sonntag war übrigens gestern...

"... die den Boden vereisen und große Mengen Beton auftragen."
Das Vereisen des Bodens ist neu für mich. Was soll das bringen? Verhindern, dass etwas in den Boden eindringt? Zur Kühlung würde Wasser reichen.

Und dann noch ein Beispiel, wie man zwischen den Zeilen lesen muss:"Die Strahlungssituation an den Westgrenzen der UdSSR ist normal. Der Strahlenpegel auf dem Territorium der Ukraine und Belorußlands ist unverändert."

Was ist mit "unverändert" gemeint? Unverändert hoch? Und woher weiß die Strahlung wo die Grenze ist?


DG0MG

Zitat von: DL3HRT am 12. Mai 2020, 06:52
"... die den Boden vereisen und große Mengen Beton auftragen."
Das Vereisen des Bodens ist neu für mich. Was soll das bringen? Verhindern, dass etwas in den Boden eindringt? Zur Kühlung würde Wasser reichen.

In den durch die Bergleute unter das Reaktorfundament gegrabenen Tunnel, der sich auf einen "Raum" erweitert, sollte ursprünglich ein Kühlaggregat eingebaut werden. Vielleicht ist das gemeint.
Ziel war ja, ein Durchschmelzen durch die Bodenplatte zu verhindern, damit das Grundwasser nicht kontaminiert wird.

[edit]: Gefunden:
"4. Mai
[..]
Unterdessen brennt es in Block 4 immer noch. Die glühende Reaktormasse droht sich durch den Beton hindurchzuschmelzen. Daher wird in den folgenden Tagen begonnen, den Reaktor zu untertunneln, um ein provisorisches Kühlsystem mit Stickstoff zu errichten. Nach und nach setzt man 400 Bergleute aus dem Donezbecken ein.
"
"Bling!": Irgendjemand Egales hat irgendetwas Egales getan! Schnell hingucken!

NoLi


DL3HRT

Was macht man mit schlechten Nachrichten? Am besten auf der letzten Seite verstecken! Daher heute einmal ein "Suchbild".